Impfstoff-Nationalismus: Der ganz normale kapitalistische Wahnsinn

Während sich die COVID-19-Pandemie in ihr zweites Jahr hineinzieht, legt sie weiterhin die Widersprüche des Weltkapitalismus offen und verschärft sie. Der Wahnsinn des Impfstoff-Nationalismus zeigt eines deutlich: Ein System, das auf Privateigentum und auf der Aufteilung der Welt in antagonistische Nationalstaaten basiert, ist nicht in der Lage, mit einer viralen Bedrohung umzugehen.


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Durch das Horten und Streiten um Impfstoffe in einem Wettlauf, zuerst die eigene Bevölkerung zu immunisieren, riskieren die reichsten Länder unzählige Leben und sie kosten ihre Volkswirtschaften Billionen von Dollar. In der Zwischenzeit zirkuliert das Virus weiter und mutiert in den ärmeren Ländern, wodurch die Gefahr besteht, dass neue, schneller übertragbare und tödlichere Stämme entstehen.

Es sitzen nicht alle im selben Boot

Ständig wird uns gesagt, dass die Pandemie eine globale Bedrohung ist und wir alle gemeinsam von ihr betroffen sind. Man sollte meinen, dass die Staats- und Regierungschefs der Welt deshalb alle ihre Ressourcen einsetzen, ihre unmittelbaren Sorgen beiseiteschieben und zusammenarbeiten würden, um diesen gemeinsamen Feind zu bekämpfen.

Der WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus mahnte im August: "Wir müssen Impf-Nationalismus verhindern... Während es unter den Regierungen den Wunsch gibt, zuerst ihre eigene Bevölkerung zu schützen, muss die Antwort auf diese Pandemie kollektiv sein."

Wie wir bereits berichtet haben, beeilten sich die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, Verträge mit privaten Pharmaherstellern für Impfstoffe abzuschließen, lange bevor die klinischen Studien überhaupt abgeschlossen waren.

Diesen imperialistischen Mächten juckte es in den Fingern, die wirtschaftliche Normalität wiederherzustellen und ihre Konkurrenten auf der Weltbühne zu übertrumpfen. Und da im Jahr 2020 mehrere potentielle Medikamente getestet wurden, streuten die westlichen Länder ihr Risiko und bestellten eine Vielzahl verschiedener Medikamente für den Fall vor, dass sich eines von ihnen als unwirksam erweisen sollte.

Das Ergebnis ist, dass Länder wie Großbritannien, die USA und Kanada sowie führende EU-Nationen wie Deutschland und Frankreich auf Hunderten von Millionen überschüssiger Impfstoffe sitzen. In einigen Fällen liegt das daran, dass bestimmte Impfstoffe in bestimmten Gebieten noch nicht zugelassen sind, wie z. B. der Impfstoff von AstraZeneca in den USA.

Aber einige Länder (vor allem in Europa) haben Schwierigkeiten, ihre Überschüsse abzusetzen, weil die Verwaltung inkompetent ist und die Öffentlichkeit skeptisch gegenüber Impfstoffen ist. Diese Skepsis wurde durch Fehlinformationen, Misstrauen gegenüber dem Establishment und dem Missmanagement m,it der Pandemie geschürt.

In der Zwischenzeit wurden die ärmeren Länder, die nicht in der Lage sind, direkt mit den großen Pharma-Konzernen zu verhandeln, in die hintere Reihe gedrängt. Das Ergebnis ist, dass Länder mit nur 16 Prozent der Weltbevölkerung sich 60 Prozent des weltweiten Impfstoffangebots gesichert haben.

Während die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder danach streben, ihre Bevölkerung bis zum Sommer geimpft zu haben, ist es unwahrscheinlich, dass 90 Prozent der Menschen in den armen Ländern in diesem Jahr auch nur eine einzige Dosis erhalten.

Die von Pfizer und Moderna entwickelten mRNA-basierten Produkte (die nach zwei Dosen zu über 90 Prozent wirksam sind) werden fast ausschließlich in reiche westliche Länder gehen. Diese Unternehmen haben sich allen Drängen der Weltgesundheitsorganisation, von Nichtregierungsorganisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) und von Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation wie Indien und Südafrika widersetzt, den Patentschutz zu lockern oder ihre Impfstoffe frei zugänglich zu machen, um die Welt mit billigeren generischen Versionen zu versorgen.

Als Ergebnis ihrer rücksichtslosen Geschäftemacherei sehen Moderna und Pfizer Umsatzprognosen im Wert von 18 und 15 Milliarden Dollar allein für das Jahr 2021. Dies ist nichts anderes als Blutgeld.

"Die Armen warten in der Schlange und sterben"

Währenddessen verlangte die britische Firma AstraZeneca, die sich verpflichtet hatte, ihren Impfstoff zum Selbstkostenpreis in den Westen zu verkaufen (gedeckelt auf 2,50 €), in Südafrika – dem am schlimmsten betroffenen Land Afrikas – den doppelten Preis pro Dosis.

Als Rechtfertigung erklärte das Unternehmen, dass Länder mit hohem Einkommen in die Forschung und Entwicklung investiert haben und daher den Preisnachlass erhalten würden. Und das, obwohl 2.000 Südafrikaner im Jahr 2020 an klinischen Versuchen teilgenommen und ihre Körper als Versuchsobjekte für einen Impfstoff zur Verfügung gestellt haben, für den die öffentliche Hand nun viel Geld bezahlen muss.

Das von den Vereinten Nationen unterstützte COVAX-Programm wurde entwickelt, um ärmere Länder mit Impfstoff zu versorgen, aber es ist aufgrund fehlender Finanzierung und der Weigerung der USA, sich unter dem ehemaligen Präsidenten Donald Trump zu beteiligen, stark vom Scheitern bedroht.

Auch wenn der jetzige Präsident Joe Biden nun mit an Bord ist, hat er neue Exportbeschränkungen für Materialien zur Impfstoffproduktion erlassen, um die amerikanische Lieferkette zu schützen. Und das trotz der Warnungen der WHO, dass Lücken in der Lieferkette die Ursache für viele der Versorgungsengpässe sind, unter denen die Impfkampagnen leiden.

Keine Sorge, Trump mag weg sein, aber es gilt immer noch „America First“.

COVAX steht derzeit vor einer großen Finanzierungslücke im Jahr 2021 und hat derzeit das sehr bescheidene Ziel, bis Ende 2021 nur zwei Mrd. Dosen auszugeben – ein Bruchteil der Zielbevölkerung. Kürzlich musste es einen weiteren Schlag einstecken, nachdem das indische Serum-Institut (sein größter Beitragszahler) aufgrund eines Anstiegs der Infektionen im Land ein De-facto-Verbot von Impfstoffexporten ankündigte.

Obwohl sich das multilaterale COVAX-Programm in einem desolaten Zustand befindet, verkaufen westliche Länder einen Teil ihres Überschusses an Verbündete und Handelspartner, die keine Probleme haben, Impfstoffe zu beschaffen oder zu bezahlen, anstatt sie direkt an arme Länder zu liefern. So hat die Europäische Union zum Beispiel 34 Millionen Dosen nach Singapur, Saudi-Arabien und Hongkong exportiert.

Dann gibt es besonders krasse Beispiele für Impfstoff-Nationalismus, wie den Fall Israel, das einen Überschuss an Moderna-Impfstoffen an Länder verschenkt hat, die zugestimmt haben, ihre Botschaften nach Jerusalem zu verlegen, wie z.B. Ungarn, die Tschechische Republik und Honduras. Gleichzeitig hat sie sich geweigert hat, dem besetzten Palästina Impfdosen zu liefern.

Als der israelische Gesundheitsminister dazu befragt wurde, spottete er, dass Israel nicht verpflichtet sei, die Palästinenser zu impfen, und fragte (in einem Kommentar, der gleichermaßen grausam und bizarr war), ob die Palästinenser nicht verpflichtet seien, sich um die Delfine im Mittelmeer zu kümmern.

Fatima Bhutto (Schriftstellerin und Enkelin des ermordeten pakistanischen Premierministers Zulfikar Ali Bhutto) fasste die Situation im Guardian kurz und bündig zusammen: „Es waren die Hyper-Kapitalisten, die die Seuche verbreiteten, sich an dem Impfstoff bereicherten und nun bequem heilen werden, als erste in der Schlange für die besten Impfstoffe, die sie gar nicht wollen. Die Armen, die um Essen und Überleben kämpften, werden in der Schlange warten und sterben.“

Schlagabtausch zwischen Großbritannien und EU

Das Fiasko mit Europas schleppender Impfstoffeinführung und der protektionistische Streit der EU mit Großbritannien und AstraZeneca über die begrenzten Dosen (über den wir letzte Woche berichteten) eskaliert weiter.

Am Donnerstag, den 25. März, trafen sich die Staats- und Regierungschefs der EU zu einem Online-Gipfel, um neue Exportbeschränkungen für Länder zu diskutieren, die bereits über eine ausreichende Versorgung mit Impfstoffen verfügen. In ihrer Eröffnungsrede wies die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen darauf hin, dass die EU bereits 21 Mio. Impfstoffdosen nach Großbritannien exportiert habe und dass es notwendig sei, die Versorgung Europas zu schützen.

Die Beschränkungen bauen auf Regeln auf, die nach dem ersten AstraZeneca-Streit im Januar eingeführt wurden. Diese erlaubten es zuvor der EU, Exporte von Impfstofflieferanten auszusetzen, die ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht erfüllt hatten. Nun wird der Block in der Lage sein, Exporte zu stoppen, selbst wenn die Ziele erfüllt werden. Offensichtlich stand Großbritannien im Fadenkreuz.

Der britische Premierminister Boris Johnson bestand darauf, dass er keinen protektionistischen Kleinkrieg wolle. Und Ex-EU-Kommissar Jean-Claude Juncker sagte in einem scharfen Angriff auf seinen Nachfolger, die EU solle davon absehen, einen "dummen Impfkrieg" mit Großbritannien zu führen. Doch genau darauf läuft es hinaus: Jede Seite beschuldigt die andere des Impfstoff-Nationalismus.

Die EU bleibt weit hinter ihren Impfzielen zurück – und bis jetzt hat AstraZeneca seine prognostizierten Lieferungen um drei Viertel gekürzt.

Besonders ärgerlich für Europa ist die Tatsache, dass AstraZeneca-Anlagen und Komponenten, die in den Niederlanden und Belgien entwickelt wurden, ihren Weg nach Großbritannien gefunden haben, während die Lieferungen aus den wichtigsten britischen Werken auf ein Rinnsal zurückgegangen sind. Für diese europäischen Werke wurden nun Exportverbote verhängt.

Es ist klar, dass AstraZeneca überdimensionierte Versprechungen gemacht hat, da es sich gegenüber Großbritannien vertraglich verpflichtet hat, keine Impfstoffe zu exportieren, bis die Aufträge für den NHS erfüllt sind.

Der Vertrag wurde im Geheimen ausgehandelt, jedoch haben Hinweise auf eine "Strafklausel" die Runde gemacht, die sich auf den Fall beziehen, falls AstraZeneca mit seinen Verpflichtungen gegenüber Großbritannien in Verzug geraten sollte. Dies erklärt, warum AstraZeneca nicht bereit ist, seine in Großbritannien hergestellten Dosen abzugeben. Dennoch hat das Unternehmen Milliarden an öffentlichen Geldern kassiert, die die EU für Vorbestellungen ausgegeben hat.

EU-Politiker machen sich nicht die Mühe, ihre Frustration zu verbergen. Philippe Lamberts, Co-Vorsitzender der grünen Fraktion im Europäischen Parlament, sagte unverblümt: „AstraZeneca behandelt uns wie ein Stück Scheiße“.

Die Europäische Kommission wurde zutiefst misstrauisch und hegte Vermutungen, dass AstraZeneca große Vorräte an Impfstoffen innerhalb Europas verstecke, die für Großbritannien bestimmt seien.

Dies führte zu einer absurden Situation, als die italienischen Carabinieri auf Anweisung der EU eine Razzia in einer Fabrik in der Nähe von Rom durchführten. Zwar wurden tatsächlich 29 Millionen Dosen des AstraZeneca-Impfstoffs gefunden, doch das Unternehmen behauptete, diese stünden noch zur "Qualitätskontrolle" an und seien für EU-Mitgliedsstaaten und Länder des COVAX-Programms bestimmt.

Das ganze Drama beginnt nun auch auf AstraZeneca zurückzufallen, das trotz seiner viel gefeierten "heldenhaften" Rolle in der Impfkampagne einfach nur eine weitere profitorientierte Big-Pharma-Firma ist – mit einigen sehr zweifelhaften Geschäftspraktiken.

Auf den Zirkus in Europa folgte das US National Institute of Allergy and Infectious Diseases, das AstraZeneca für eine "irreführende" Analyse seiner klinischen Studien kritisierte, die anscheinend eine etwas geringere Wirksamkeit zeigen als ursprünglich angenommen.

Der kumulative Effekt von all dem ist, dass die Aktien des Unternehmens um ein Fünftel gefallen sind, und es gibt Gerüchte, dass der CEO zum Rücktritt gezwungen werden könnte. Mit den drohenden Exportverboten aus Europa steht das Unternehmen unter immensem Druck, die vertraglichen Vereinbarungen mit Großbritannien zu brechen – und genau das ist die Intention der EU, die ihr ganzes Gewicht in die Waagschale wirft.

Kurzsichtigkeit

Im Grunde genommen ist der Konflikt zwischen Großbritannien, AstraZeneca und der EU politischer Natur. Die EU muss gedemütigt zusehen, wie ein Nach-Brexit Großbritannien bereits die Hälfte seiner erwachsenen Bevölkerung geimpft hat, während die EU mit der Umsetzung der Impfkampagne kämpft.

Die tollwütigen Nationalisten in Downing Street Nr. 10 haben keine Zeit verschwendet, sich auf Kosten Europas zu brüsten. Gesundheitsminister Matt Hancock brüstete sich damit, dass sich Pharmafirmen in Zukunft lieber in Großbritannien ansiedeln sollten als in einer protektionistischen EU, denn: "In Großbritannien kann man in die ganze Welt exportieren – wir werden das niemals unterbinden."

Aber wie immer haben diese widerwärtigen Heuchler nicht im Geringsten das Recht, mit irgendetwas zu prahlen, angesichts des kriminellen Missmanagements der Tories bei der Pandemie, die dreimal mehr britische Todesopfer gefordert hat als die Luftangriffe (1940-41) im Zweiten Weltkrieg.

Dennoch war die Verbitterung mit den überheblichen Briten offensichtlich ein Faktor bei der grundlosen Aussetzung des AstraZeneca-Impfstoffs durch 17 EU-Nationen für zwei volle Wochen wegen (unbewiesener) Verbindungen mit Blutgerinnseln. Als Vergeltung bemühen sich Johnson und die Tories nach Kräften, den in Großbritannien hergestellten AstraZeneca-Impfstoff als Teil ihres laufenden patriotischen "Kulturkriegs" zu verteidigen.

Es zeugt von der Kurzsichtigkeit dieser bürgerlichen Politiker, dass solche kleinlichen Streitigkeiten toben, während Europa mit einem neuen Anstieg der Infektionsraten konfrontiert ist, auch in Ländern, die zuvor das Schlimmste der Pandemie vermieden haben.

Ungarn, Montenegro, Slowenien, Bosnien-Herzegowina und Bulgarien sind in die Liste der 10 am schlimmsten betroffenen Nationen der Welt aufgestiegen. Die Slowakei und Polen sind unter den Top 25. Diese dritte Welle ist größtenteils auf die Ausbreitung der so genannten Kent-Variante des Virus zurückzuführen, die in Großbritannien mutierte und sich über den Winter auf dem Kontinent ausbreitete, während der die Tory-Regierung zögerte, eine neue Abriegelung zu erlassen.

Großbritannien seinerseits hat bereits eine der schlimmsten Todesraten der Welt zu verzeichnen und ist noch lange nicht über den Berg. Da die Tories bereits ihre Optionen in Bezug auf die Zulassung von Auslandsreisen während des Sommers in Betracht ziehen, könnte sich die Geschichte wiederholen, wenn das Virus nicht auf beiden Seiten des Kanals unter Kontrolle gebracht werden kann.

All diese Damen und Herren errichten neue Handelsgrenzen genau in dem Moment, in dem ein offener Austausch von Ressourcen, Fachwissen und Impfstoffen am nötigsten ist. Während sie sich ankeifen, sterben einfache Arbeiterinnen und Arbeiter auf beiden Seiten des Kanals, weil die Pandemie unnötig in die Länge gezogen wird.

Die EU: Ein gespaltenes Haus

Abgesehen von der Feindschaft zwischen Großbritannien und Brüssel wird die so genannte Europäische Gemeinschaft durch den Impfstoff-Nationalismus von innen heraus zerrissen.

Trotz neuer Exportkontrollen, die von von der Leyen und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorangetrieben werden, wehrten sich am 25. März führende Politiker aus Deutschland, Belgien, Finnland, Schweden und den Niederlanden. Diese Länder sind alle tief in die Lieferketten für die Impfstoffproduktion verwickelt, und ihren Volkswirtschaften drohen durch Handelsbeschränkungen starke Verluste.

Weit entfernt von einer geeinten Front sind die EU-Führungen hoffnungslos gespalten. Schon vor dem Gipfel gab es viel Unruhe unter den Mitgliedsstaaten über den ungleichen Zugang zu Impfdosen.

Laut Recherchen der New York Times teilte die Europäische Kommission ihren Mitgliedsstaaten aufgrund einer gemeinsamen Vereinbarung mit den großen Pharmakonzernen, die Dosen im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße zu.

Viele EU-Länder, besonders jene mit größeren und/oder schwer erreichbaren Bevölkerungen und schwächeren Volkswirtschaften, wollten den Impfstoff von AstraZeneca, um die Kosten niedrig zu halten. Die wohlhabenderen Mitgliedsstaaten hatten eine Präferenz für die mRNA-Impfstoffe von Pfizer und Moderna. Dies führte zu informellen Absprachen, bei der die Länder ihre Impfstoffe gegen ihre bevorzugte Wahl tauschten.

Als die EU in ihr Versorgungsdesaster mit AstraZeneca geriet, verursachte das ein großes Problem für Länder, die ihre Impfstoffe von Pfizer und Moderna eingetauscht hatten. Diese wurden größtenteils von den reichsten Mitgliedsstaaten angehäuft, die auch über ihre zugeteilten Dosen hinausgingen, indem sie nebenbei separate, direkte Deals mit Pharmafirmen abschlossen.

Zum Beispiel schloss Deutschland einen Nebenvertrag mit Pfizer-BioNTech (das zur Hälfte ein deutsches Unternehmen ist) über zusätzliche 30 Millionen Dosen im Jahr 2021 ab.

Das sorgte für Wut und den Vorwurf der Heuchelei seitens der ärmeren EU-Länder, die (zu Recht) darauf hinwiesen, dass Berlin den Weg für ein gemeinsames Abkommen für den Block geebnet hatte und dann seine finanzielle Macht nutzte, um Millionen zusätzlicher Impfstoffe für sich zu horten.

In einem Versuch, die Wogen zu glätten, arrangierte Brüssel, dass 30 Prozent der zusätzlichen 10 Millionen Impfdosen, die von Pfizer gekauft wurden (in einer profitablen Entwicklung für letzteres), an Mitgliedsstaaten ausgegeben wurden, die gegen die Eindämmung des Virus kämpfen.

Aber das wurde vom reaktionären und äußerst EU-feindlichen österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz aufgegriffen, der sich dagegen wehrte, dass sein Land von der Vereinbarung ausgeschlossen wurde.

Österreichs Impfquote liegt sogar leicht über dem EU-Durchschnitt, und Kurz nutzt die Situation offensichtlich aus, um einen internen Angriff auf Brüssel zu starten, indem er eine gemeinsame Erklärung gegen die Entscheidung mit den Staats- und Regierungschefs von Bulgarien, der Tschechischen Republik, Slowenien, Kroatien und Lettland herausgab. Damit verfolgt er seine eigene enge Agenda auf Kosten der EU.

Die hehren Ideale von Freihandel, Demokratie und Globalisierung haben sich in ein schmutziges protektionistisches Gerangel verwandelt, während demagogische, rechtsgerichtete Nationalisten das geschwächte Ansehen Brüssels für ihren eigenen Vorteil ausnutzen. Weit entfernt von der europäischen Gemeinschaft ist angesichts der Coronavirus-Pandemie jeder auf sich allein gestellt.

All dies lässt die EU völlig entblößt dastehen: Sie ist ein Club der Bosse, der sich bereits im Niedergang befindet und in dem, wenn es hart auf hart kommt, jeder Anschein von Einigkeit über Bord geworfen wird.

Russland, China und die Impfdiplomatie

Während die westlichen imperialistischen Länder in den Impfstoff-Nationalismus verwickelt sind, treiben rivalisierende Mächte ein anderes Spiel. Als die USA und Europa ihre Vorräte horteten und neue Handelsbarrieren errichteten, um sie zu schützen, verschifften China und Russland Millionen von Sinovac- und Sputnik-V-Impfstoffen nach Lateinamerika, Afrika, Asien und in den Nahen Osten. Zusammen haben sie 800 Mio. Dosen in 41 Länder geliefert.

Darüber hinaus waren russische und chinesische Unternehmen bereit, Lizenzvereinbarungen zu treffen, die es Herstellern in Ländern wie Indonesien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Malaysia ermöglichen, COVID-19-Impfstoffe teilweise oder ganz vor Ort zu geringen Kosten zu produzieren – ganz im Gegensatz zu westlichen Unternehmen, die ihr geistiges Eigentum eifersüchtig verteidigen.

Die extreme Heuchelei des Westens wird entlarvt, wenn westliche Kommentatoren über Chinas und Russlands Impfpolitik spotten, während sie selbst dagegen sind, den armen Ländern wirklich zu helfen. In Wirklichkeit fordern sie, dass Millionen von Menschen sterben sollen, anstatt ihren eigenen Einfluss auf diese Länder untergraben zu sehen.

Natürlich ist diese Impfstoff-Diplomatie keine humanitäre Geste Pekings oder Moskaus. In erster Linie wollen sie als diejenigen anerkannt werden, an die man sich im Falle von Gesundheitskrisen und Pandemien wenden kann, die in Zukunft wahrscheinlich häufiger auftreten werden.

"Von nun an werden wir wohlwollend schauen, wenn eine chinesische Firma kommt und sagt: Wir haben einen guten Impfstoff für Diphtherie oder Polio oder Hepatitis", sagte Najwa Khoury-Boulos, ein Professor für Infektionskrankheiten, der die jordanische Regierung in Sachen Pandemie berät. "Wir werden vielleicht nicht ändern, was wir kaufen, aber wir würden es mit mehr Respekt betrachten als bisher."

China hat seine Impfkampagne auch in sein "Neue Seidenstraße"-Projekt integriert und nutzt Gipfeltreffen im Nahen Osten und in Afrika, um neben Investitionen in Autobahnen, Häfen, 5G-Netze und erneuerbare Energien auch bevorzugten Zugang zu Impfstoffen anzubieten und so neue Wege und Märkte für chinesisches Kapital zu schaffen.

Hier gibt es eine geopolitische Agenda. China weitet seinen Einfluss in Ländern aus, die nicht in der Lage waren, sich Dosen von Unternehmen wie Pfizer oder AstraZeneca zu sichern. Mit anderen Worten: Sie füllen die Lücke, die der Impfstoffnationalismus der USA und der führenden europäischen Nationen hinterlassen hat. Das ist auch ein Mittel für China, um aus dem Handelskrieg auszubrechen, den die EU und die USA gegen das Land führen.

China hat seinen Impfstoff getestet und Abkommen getroffen, um ihn an Länder wie Brasilien zu liefern, direkt im Hinterhof der USA. Das wurde arrangiert, nachdem sich die Bedingungen, die Pfizer von Brasilien verlangte, einschließlich der Überlassung von Staatsvermögen als Sicherheit für die Kosten von Klagen im Falle von Nebenwirkungen, als zu lästig erwiesen.

Derweil drängt Russland nach der AstraZeneca-Katastrophe mit seinem Sputnik V nach Europa.

Das italienisch-schweizerische Pharmaunternehmen Adienne in der Lombardei kündigte eine erste Produktionsvereinbarung an, um den Impfstoff ab Juli herzustellen. Eine weitreichende politische Krise ist in der Slowakei ausgebrochen. Premierminister Igor Matovic erklärte, er sei bereit, zurückzutreten, nachdem seine Entscheidung, den russischen Impfstoff zu kaufen, seine Koalitionsregierung in Turbulenzen gestürzt hatte.

Es gab sogar Gerüchte, dass mit Unternehmen in Spanien, Frankreich und Deutschland (vorbehaltlich der Zulassung in der EU) Vereinbarungen getroffen wurden, Sputnik V im Herzen der EU herzustellen, um den Fehlbetrag aus dem Streit mit AstraZeneca auszugleichen.

Dies wäre ein enormer Schlag für das Ansehen der EU als Weltmacht gewesen. Diese Möglichkeit wurde von Binnenmarktkommissar Thierry Breton, der die Impfstoff-Task-Force der EU-Exekutive leitet, eilig abgeschmettert, indem er erklärte: "Wir haben absolut keinen Bedarf an Sputnik V."

Nichtsdestotrotz steht die EU durch die aktuelle Krise unter einem immensen Druck. Um ihre Wirtschaft zu retten und die politische Stabilität zu erhalten, braucht die EU mehr Impfstoffe. Aber Impfstoffe aus Russland zu bekommen – Impfstoffe, die mit Forderungen nach einer Aufweichung der Haltung der EU gegenüber Russland einhergehen würden – würde sie gegen die USA ausspielen, die versuchen, Russland international zu isolieren.

Geopolitischer Fußball

Verschärft wird diese Krise durch die schweren Auswirkungen der Pandemie auf Europa und die USA. China hingegen hat sich relativ schnell wieder erholt und verzeichnet wieder ein Wirtschaftswachstum. Das verschafft dem Land einen gewissen Spielraum, um seine überschüssigen Impfstoffvorräte als diplomatisches Instrument zu nutzen, anstatt jede Dosis für die eigene Bevölkerung zu horten.

Als Zeichen der Stärke hat China die Visabearbeitung für ausländische Besucher wieder aufgenommen, allerdings nur, wenn sie mit Sinovac geimpft wurden – und schließt damit den Großteil des Westens aus, wo der Impfstoff nicht zugelassen ist.

Diese Art von „weicher Macht“ könnte Teil eines Versuchs sein, Nordamerika und Europa unter Druck zu setzen, Chinas Impfstoff zuzulassen. Aber da die EU und Großbritannien die Idee von Impfpässen diskutieren, um Personen freies Reisen zu ermöglichen, kann man sich ein Szenario vorstellen, in dem konkurrierende Mächte die selektive Impfstoffzulassung nutzen, um Auslandsreisen in einem weiteren protektionistischen Kampf zu begrenzen.

Es versteht sich von selbst, dass lebensrettende Impfstoffe nicht zum geopolitischen Spielball werden sollten. Es sollte nicht einmal mehrere Impfstoffe geben, die letztlich dem gleichen Zweck dienen. Die derzeitige Situation ist ein Beweis für kapitalistische Irrationalität und Verschwendung.

Unter einem globalen sozialistischen System hätte ein einziger Impfstoff entwickelt und an die ganze Welt verteilt werden können, anstatt eine Vielzahl von Produkten auf dem freien Markt zu verkaufen und für die Interessen konkurrierender kapitalistischer Mächte auszubeuten.

Ein Beispiel dafür, was möglich ist, ist Kuba, das sich geweigert hat, Impfstoffe von großen Pharmaunternehmen zu kaufen. Stattdessen durchläuft ein im Land entwickelter Impfstoffkandidat, Soberana 2, die dritte Phase der klinischen Tests.

Das Land ist zuversichtlich, dass es bis zum Sommer über genügend Impfstoffdosen verfügen wird, um die Bevölkerung zu impfen und einen Überschuss zu haben. Das Land hat erklärt, dass dieser Impfstoff für jeden kostenlos sein wird, auch für alle ausländischen Besucher, die am Flughafen von Havanna ankommen.

Und das alles trotz anhaltender westlicher Sanktionen und der schwersten Wirtschaftskrise seit der Sonderperiode in den 1990er Jahren. Selbst in einem deformierten Arbeiterstaat sehen wir die klaren Vorteile einer Planwirtschaft gegenüber einer kapitalistischen Wirtschaft, wenn es darum geht, eine öffentliche Gesundheitskrise dieser Art zu bewältigen.

Es gibt keine Immunität in einem Land

Wir haben schon früher festgestellt, dass der "Wir zuerst"-Ansatz der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder eine selbstzerstörerische Perspektive ist. Das Virus kümmert sich nicht um nationale Grenzen. Die Immunisierung einer Handvoll reicher Länder wird das Virus nicht daran hindern, zu zirkulieren, zu mutieren und in Zukunft in einer ansteckenden Form zurückzukehren.

Wie die WHO gewarnt hat: "Wahrlich, niemand ist sicher, bis alle sicher sind."

Abgesehen der katastrophalen Verlusten an Menschenleben, die sich immer weiter hinziehen werden, bis diese Pandemie weltweit unter Kontrolle ist, macht Impfstoff-Nationalismus nicht einmal auf kapitalistischer Basis Sinn.

Eine von der Forschungsstiftung der Internationalen Handelskammer (ICC) in Auftrag gegebene Studie ergab, dass die Weltwirtschaft 9,2 Billionen Dollar verlieren könnte, wenn die Regierungen nicht sicherstellen, dass arme Länder Zugang zu COVID-19-Impfstoffen haben. Sogar die Hälfte dieser Kosten würde auf die fortgeschrittenen Volkswirtschaften entfallen.

Um ein anderes Beispiel zu nennen: Es wird geschätzt, dass eine Investition von 27,2 Milliarden Dollar seitens der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder – die derzeitige Finanzierungslücke, mit der COVAX konfrontiert ist – eine Rendite in Höhe des 166-fachen der Investition generieren würde. 27 Milliarden Dollar sind ein buchstäblicher Tropfen auf den heißen Stein im Vergleich zu den Billionen, die die Staaten bereits ausgeben, um ihre Volkswirtschaften zu stützen.

Das Problem ist, dass die degenerierten politischen Vertreter der Bourgeoisie nicht an das Wohlergehen der Menschen oder sogar an die Gesundheit des kapitalistischen Systems auf lange Sicht denken, sondern nur an ihre unmittelbaren Interessen: ihre Karrieren und die kurzfristigen Profite der hinter ihnen stehenden Kapitalisten.

Das war ihre Denkweise vom ersten Tag der Pandemie an, weshalb sich so viele von ihnen weigerten, frühzeitig wirksame Lockdown-Maßnahmen zu ergreifen. Stattdessen zielten sie darauf ab, ihre Wirtschaft statt Menschenleben zu schützen, wobei sie letztlich in beiden Punkten versagten.

Darüber hinaus wird der Kapitalismus durch den Nationalstaat eingeschränkt: eine verrottete und überholte Institution, die einen schrecklichen Einfluss auf die Menschheit ausübt, indem sie jede Möglichkeit der internationalen Zusammenarbeit zunichtemacht.

Gepaart mit den privaten Interessen der profitgierigen Unternehmen, die die medizinischen Produktionsmittel kontrollieren, bleiben die Arbeiter der Welt in diesem Alptraum gefangen, während die bürgerlichen Führer ihre Ressourcen und Handelshemmnisse verteidigen.

Wir haben bereits davor gewarnt, dass das skandalöse Versagen des Kapitalismus, mit dieser Krise umzugehen, die Aussicht eröffnet, dass das Coronavirus endemisch wird. Teile der Bourgeoisie sind bereit, diese neue Normalität zu akzeptieren, wie ein in Bloomberg veröffentlichter Artikel mit dem Titel "Wir müssen mit der Planung für eine permanente Pandemie beginnen" feststellt:

"Man betrachte zwei alternative Evolutionspfade. Bei dem einen wird ein Virus schlimmer, aber nicht stärker übertragbar. Es wird mehr Krankheit und Tod verursachen, aber das Wachstum ist linear. Auf dem anderen Pfad wird ein mutierendes Virus weder mehr noch weniger virulent, aber ansteckender. Es wird eine Zunahme von Krankheit und Tod verursachen, die eher exponentiell als linear verläuft...

Wenn dies der Evolutionspfad von SARS-CoV-2 ist, stehen uns scheinbar endlose Zyklen von Ausbrüchen und Remissionen, sozialen Einschränkungen und Lockerungen, Schließungen und Wiedereröffnungen bevor. Zumindest in den reichen Ländern werden wir wahrscheinlich ein paar Mal im Jahr gegen die neueste Variante geimpft, die im Umlauf ist, aber nie schnell oder umfassend genug, um eine Herdenimmunität zu erreichen...

[W]ir müssen auch realistisch sein. Resilienz erfordert, dass wir dieses neue Szenario in unsere Planung einbeziehen."

Diese verblüffende Schwarzseherei spiegelt die Unfähigkeit der Kapitalisten wider, diese Situation in den Griff zu bekommen. Aber eine permanente Pandemie ist nicht unvermeidlich: Mit richtigen, koordinierten Lockdown-Maßnahmen, wirtschaftlicher Unterstützung für die Arbeiterklasse und einem effektiven Impfprogramm könnten wir dieser Katastrophe ein Ende setzen.

Wir müssen die großen Pharmakonzerne verstaatlichen. Ihre Forschung – finanziert durch die öffentliche Hand – sollte öffentliches Eigentum werden. Die notwendigen Fabrikkapazitäten für die schnelle Herstellung von genügend Impfdosen, Glaswaren, Spritzen und Kühleinrichtungen müssen durch Enteignung bestehender Produktionsstätten geschaffen werden. Die Produktion muss hochgefahren und ein international koordinierter Plan zur schnellen, weltweiten Impfung umgesetzt werden. Aber damit dies geschehen kann, müssen wir den Kapitalisten und ihren politischen Vertretern die Handhabung der Pandemie aus den Händen nehmen. Nur die Arbeiterklasse an der Macht kann dies durch eine sozialistische Weltföderation erreichen.

Diese Pandemie und die Reaktion der Regierungen auf sie haben das kapitalistische System bis an seine Grenzen gebracht. Das Ergebnis sind Tod und Entbehrung auf einem entsetzlichen Niveau. Die reichsten Länder drängen die Armen völlig ins Abseits und überlassen sie ihrem Schicksal. Die Unternehmen und Regierungen verfolgen rücksichtslos nur ihre Eigeninteressen.

Der Impf-Nationalismus ist eine Anklage gegen das System, unter dem wir leben. Wir brauchen eine Gesellschaft, die auf Internationalismus, Solidarität und der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse basiert. Um dies zu erreichen, ist es zwingend erforderlich, dass der Kapitalismus auf den Müllhaufen der Geschichte befördert wird.

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