In Andenken an Hans-Gerd Öfinger (1955-2021): Die rote Fahne fliegen lassen

Unser langjähriger Genosse und Freund Hans-Gerd Öfinger ist letzten Freitag gestorben. Die drei Funken würde es ohne ihn wahrscheinlich nicht geben. Als unermüdlicher Revolutionär und Marxist hat er eine tiefe Spur in der Geschichte der IMT hinterlassen. Wir veröffentlichen hier zwei Nachrufe und Erinnerungen.

In Erinnerung an Hans-Gerd

von Emanuel

Sein gesamtes bewusstes Leben hat er der Befreiung der Arbeiterklasse gewidmet und ganz wird er uns dabei nie verlassen. Denn die drei Funken, die deutschsprachigen Sektionen der IMT, würde es ohne ihn wahrscheinlich nicht geben, jedenfalls hätte die Geschichte verschlungene Wege gehen müssen und dabei viel Zeit verloren.

Aber da war Hans-Gerd, den alle einfach HG nannten. Er war von Anfang an dabei, den roten Faden der Revolution in der deutschsprachigen Welt wieder anzuknüpfen. Hans-Gerd war Diplom-Dolmetscher (Englisch und Spanisch). In den frühen 1970er Jahren engagierte er sich schon als Teenager in der organisierten Arbeiterbewegung, den Jusos und der Gewerkschaft. Ein einschneidendes Ereignis in seiner politischen Ideenbildung war der Putsch gegen die sozialistische Regierung Allendes in Chile im September 1973. Dieses Ereignis rüttelte Millionen auf, und für Hans war es der Anlass seine sozialistischen Ideen auf ein solides wissenschaftliches Fundament, den revolutionären Marxismus, zu stellen.

Er lernte die Militant-Strömung kennen und schloss sich ihr an. 1974 nahm er an der Gründungskonferenz des Committee for a Workers‘ International (CWI) teil und gründete die deutsche Sektion.

Hans-Gerd war ein Mensch von einem Menschen. Seine Freunde begrüßte er mit einem kräftigen Handschlag und einem humorvollen Sager. Offen, interessiert, humorvoll und vor allem ansteckend enthusiastisch. Er war ein harter Arbeiter und oft vermutete ich, dass er die Möglichkeit gefunden hat, Zeit in die Zeit zu schachteln – er war ein Multitasker, schon bevor es dieses Wort noch gab. Dies brachte auch eine unangenehme Sache mit sich, nämlich dass es hin und wieder nicht einfach war, mit ihm zusammenzuarbeiten. Immer von neuem inspiriert und inspirierend, war es nicht seine Stärke, sich an gesteckte Fristen zu halten oder ein langfristiges Projekt auszurollen. Unmöglich war es dabei, ihm lange böse zu sein, denn er lächelte Anflüge von Verzweiflung oder Ärger weg. Und weil er stets auch einen guten Schmäh führte oder eine interessante Neuigkeit zu berichten hatte, war die schlechte Laune schnell verblasen.

HG war jede Form von Zynismus und Bürokratismus wesensfremd. Tief verankert in der Arbeiterbewegung und intim mit ihren revolutionären Traditionen verwoben, war es ihm nie eine Versuchung, von der – anstatt für die – Bewegung zu leben. Zu Ted Grant, dem führenden Theoretiker der Militant Tendency und Inspirator verband ihn Zeit seines Lebens eine politisch und menschlich innige Beziehung. Er mochte es gern „über den Ted“ zu reden, aber auch über Rosa und Karl, wie er Luxemburg und Liebknecht nannte, als ob er selbst noch letzte Woche eine Parteiversammlung mit ihnen besucht hätte. Der Internationalismus, diese hervorragende Tradition der revolutionären Arbeiterbewegung Deutschlands, war ganz das Seine. Er war ein intimer Kenner der revolutionären Tradition seines Landes und er verstand sich als ein Teil dieser lebenden heroischen und tragischen Geschichte, in der die Niederlagen bisher zahlreicher waren als die Siege, gerade in Deutschland. Die Revolution, sie war, sie ist und sie wird sein, und man gibt ihr das Beste was man zu geben hat. Auf diesen einfach zu sprechenden philosophischen Ansatz stellte Hans beide seine Beine, fest und unverrückbar. Und stur war er in allem, egal welche Hürden, Abgründe, Anstiege oder Strecken er durchwandern musste.

HG stand an der Seite von Ted Grant, als dieser und seine Unterstützer und Unterstützerinnen 1991 aus dem CWI ausgeschlossen wurden. Dies war kein punktuelles Ereignis, und HG verteidigte beharrlich über lange Monate die politische Plattform der Minderheit. Der Spaltung der CWI gingen aber keine demokratischen Debatten voraus. Im Gegenteil, der politische Kern des Fraktionskampfes wurde tunlichst verschleiert, persönliche Diffamierungen standen an der Tagesordnung. Dies erlebte selbst ich, obwohl ich damals noch ganz am Rande des Geschehens stand, auf der Busfahrt zur „Jugend gegen Rassismus“-Demo in Brüssel, die das CWI organisiert hatte. Gefragt nach dem Grund, warum der historische Führer Ted Grant ausgeschlossen worden sei, wurde mir gesagt, dass der alte Mann senil und den neuen Herausforderungen nicht mehr gewachsen sei. Inmitten dieser vergifteten Atmosphäre arbeitete HG, wie es seiner Art entsprach, beharrlich weiter an führender Stelle am Aufbau der deutschen Sektion. Als langjähriger Fulltimer besaß er eine hohe Autorität, auch unter österreichischen GenossInnen, daher waren auch er und seine Lebens- und Kampfgefährtin Maria-Clara gezielter persönlicher Zermürbung ausgesetzt. Wir sprachen nicht viel über diese Zeiten, aber diese hallten in ihm leise nach. Ohne Bitterkeit muss jener Rückschlag der revolutionären Bewegung daher auch hier genannt werden, als biographische Zäsur für tausende AktivistInnen, insbesondere in Großbritannien, aber eben auch in seinem Leben.

Aus der heutigen Perspektive ist dieser Epochenbruch eine Anekdote und Ted Grant lehrte uns schon damals: Der Zusammenbruch des Stalinismus ist nur das Vorspiel zu einer viel gewaltigeren Krise des Kapitalismus. Aber versetzen wir uns zurück in diese Jahre. In der DDR rumorte es 1989. HG war daran beteiligt, Trotzkis „Verratene Revolution“ erstmals in größerer Stückzahl in den „Ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat“ einzuschmuggeln. Aus dem Kampfesruf „Wir sind das Volk“ wurde im späten 1989 der Slogan „Wir sind ein Volk“. Die Sowjetunion ist zusammengebrochen, unter der Führung von Michail Gorbatschow hat die Bürokratie den Kapitalismus in der Heimat Lenins wiedererrichtet. Deutschland wurde rasch wiedervereinigt und Helmut Kohl der unbestrittene deutsche Held. Die Sozialdemokratie ging nun zunehmend ungebremst nach rechts, das Ende der Geschichte, der historische Sieg des Kapitalismus wurden ausgerufen. Der Marxismus, noch in den 1980ern an Schulen und Universitäten zumindest als ein wissenschaftlicher Beitrag der menschlichen Kulturgeschichte anerkannt, wurde nun als widerlegt bezeichnet. Vor den Bibliotheken lagen die Werke von Marx, Engels und Lenin, und so viele Werke, die die Meister des Marxismus in den Wissenschaften ab den 1970er inspirierten. Selten in den Gratisboxen, sondern meist gleich in der Gosse. In jenen Tagen rollten weltweit Millionen Aktivistinnen und Aktivisten ihre roten Fahnen ein, und nicht wenige Stalinisten wurden zu rabiaten Antikommunisten und leiteten die ideologische Offensive gegen den Sozialismus ein. Genau in diese Zeit fällt die Spaltung der CWI. In Deutschland gleich in mehrere Teile, wobei HG nur eine kleine Gruppe um sich scharen konnte. In solchen Epochen der Niederlage braucht es einen starken Charakter, aber insbesondere ein tiefes Verständnis für die Theorie und die Ideenwelt des Marxismus. HG hatte beides. Er war einer der wenigen deutschsprachigen revolutionären AktivistInnen der Generation der 1970er Jahre, die diese Zeit politisch unbeschadet überlebten und bis zu seinem letzten Atemzug am revolutionären Marxismus festhielten.

Der Funke in Österreich entstand aus zwei Quellen, die von HG zusammengeführt wurden. Einer von uns war in Niederösterreich, und dann gab es eine kleine Gruppe, deren Kern im Herbst 1991 am Bundesgymnasium Feldkirch zusammengefunden hatte. Über verschlungene Wege, Briefe, Telefaxe und Telefonate, schließlich physische Treffen zwischen Wiesbaden, Mailand, Sommerein und den Dörfern um Feldkirch herum, fanden wir zusammen. Das erste Mal, dass ich von HG hörte, war an der Kassa des ADEG-Marktes in Tisis. Ein Mitschüler zeigte mir Nummer 2 oder 3 von „Der Funke“, wahrscheinlich war das im Frühjahr 1992. Mein Mitschüler war hörbar von diesem HG beeindruckt und meinte, dass wir jetzt einen soliden Ansatz für unsere revolutionären Aspirationen gefunden hätten.

Für HG war das aber nicht der erste Ansatzpunkt zum südlichen Nachbarland, bereits zum zweiten Mal schon legte er den Grundstein der Internationale im Alpenland. Beim IUSY-Festival 1981 in Wien knüpfte er die ersten Kontakte zur österreichischen Sektion und hier trafen sich Maria-Clara und er zum ersten Mal. Ich lernte beide erst über 10 Jahre später kennen, aber selbst da wirkten sie noch immer frisch verliebt und immer entdeckte ich aufs Neue wie sehr diese zwei Menschen füreinander gemacht sind und wie gegenseitig aufmerksam und rücksichtsvoll sie ihr gemeinsames Leben und den gemeinsamen politischen Kampf gestalteten. Ihre Tochter Rosa ist später auf ihrem eigenen Weg in unsere Internationale gekommen.

Kennenlernen durfte ich HG auf unseren Konferenzen in Feldkirch. In zwei Jahren hintereinander kamen wir hier zusammen, mit HG und Ted Grant. Mit zwei Veteranen der Bewegung gemeinsam zu arbeiten, gab uns eine politische Sicherheit, ohne dass wir unseren jugendlichen Leichtsinn dabei aufgaben, was auch niemand verlangte. Diese kleine österreichische Gruppe war politisch sehr roh, vor allem die Vorarlberger, aber HG und Ted waren perfekt für uns. Ich erinnere mich nur an einzelne Aspekte der politischen Debatte, es ging hier um grundlegende Fragen des Marxismus, die wir noch in Frage stellten. Die ausführliche Diskussion über unsere Fragen, die politische Klarheit, mit der Fehlannahmen widerlegt wurden und besonders der interessierte, freundliche und geduldige Charakter der beiden hinterließen einen tiefen bleibenden Eindruck in mir. Ted beendete eine dieser zwei Konferenzen mit einer Challenge an uns. Er forderte jeden von uns auf, im kommenden Jahr einen weiteren Menschen vom Sozialismus zu überzeugen, und dann würden wir diese kleine Gruppe verdoppelt haben, und dann im kommenden Jahr das Ganze nochmals.

Bis es dazu kam brauchten wir noch ein paar Jahre des politischen und praktischen Trainings. HG nahm uns unter die Fittiche und wir gaben die erste Broschüre raus: „Sozialreform oder Revolution“ von Rosa Luxemburg, in einer Auflage von 300 Stück. Vor allem aber zeigte er uns, wie man eine Zeitung produziert. „Der Funke“ erschien als gemeinsame Ausgabe, nur den Umschlag produzierten wir jeweils anders, dann zwei Druckbögen. In Wien, wo wir 1994 den Kern der österreichischen Gruppe zusammenzogen, wurden wir abschätzig als „Kolporteure einer deutschen Zeitung“ bezeichnet, aber das war nicht so, wir lernten nur mit guten Lehrmeistern. Die zweite Konnotation, dass die Zeitung „deutsch“ sei, muss erklärt werden. Im Kern besteht das österreichische Nationalbewusstsein im Vergleich mit und der Abgrenzung zu Deutschland, als dessen Opfer „wir“ uns seit 1945 verstehen sollten. Eine bequeme Geschichtslüge, auf der dann der angeblich unterschiedliche nationale Charakter der BewohnerInnen des deutschsprachigen Nordens und Südens aufgebaut wird. Diese reaktionäre Ideologie ist auch in der Arbeiterklasse verankert und wurde von uns immer wieder aktiv entgegnet.

Tatsächlich hatten wir dann in den 1990er Jahren in Österreich bessere Bedingungen als die deutschen GenossInnen, um ein rasches Wachstum unserer Strömung einzuleiten. Dies ist leicht erklärt. Wir waren jung und völlig unbelastet von den großen Niederlagen unserer Klasse in der vorangegangenen Periode, wir bauten auf dem soliden Fundament korrekter Ideen etwas Neues auf. Dies entspricht dem Sturm und Drang der jugendlichen Psyche, die das Privileg hat zu glauben, dass sowieso die ganze Welt mit ihr neu entsteht. Erst später wurde uns klar, dass die Aufgabe von HG, Christoph und Maria-Clara in Wiesbaden weit schwieriger war: Sie mussten in einer Umgebung verheerender Rückschläge und Verletzungen in unermüdlicher Arbeit das Neue aus dem Alten und Gebrochenen wieder zusammenfügen.

Groß war und ist daher auch unsere Freude als wir zunehmend bemerkten, dass eine Anzahl der besten Jugendlichen und Junggeblieben aus unterschiedlichen Teilen des Landes zum deutschen Funke stießen und unsere deutsche Gruppe in den vergangen Jahren völlig transformierten. Es ist klar, dass HGs ruhige, offene und gewinnende Art eine Voraussetzung dafür war.

Wenn man 30 Jahre gemeinsam kämpft, entsteht ein festes und intimes Band von Respekt und Freundschaft. Das ist kein geradliniger Prozess, sondern geht durch Höhen und Tiefen und ufert weit über die eigentliche Sache – den gemeinsamen Kampf – hinaus. Wie bereits beschrieben, ging HG sehr bewusst mit der Zeit um, und er wollte sie nicht verschwenden. Das heißt gar nicht, dass er immer in Eile war, im Gegenteil, er nahm sich bewusst Zeit für Sachen, die ihm wichtig waren. So reiste er am liebsten im Zug und eine zweite Leidenschaft war das Bergsteigen. Ergab sich ein freier Nachmittag oder gar ein freier Tag, hatte er immer eine Idee parat wie man diese Zeit in Schönheit verbringen kann. Er kannte besondere Flecken und Touren, hatte wirkliche Geheimtipps, vor allem solche, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln, am besten der Bahn, erreichbar waren. Aus seiner Leidenschaft entwickelte sich in den Jahren eine Tradition, dass eine immer größere Gruppe an GenossInnen sich mit ihm im Rahmen unserer Weltkonferenzen auf eine Wanderung begaben.

Ab und an gingen wir auch im kleineren Rahmen und auch zu zweit, und eine Erinnerung möchte ich hier festhalten. Im Juli 2016 nahm ich seine Einladung an, von Rochesmolles hinauf auf den Passo Roccia Verde zu wandern. Es ging sofort steil hinauf, und er musste sein schnelles Tempo an meine Atemlosigkeit anpassen. „Wie weit geht das denn so rauf?“ „Da bis zu der Kante, bist du nicht so fit, gell?“ Ja genau, mein T-Shirt wurde so durchschwitzt, dass die Textilfärbung großflächig ausbleichte. Hinter der erreichten Kante wandelte sich die sommerliche Vegetation in sattes alpines Grün in einem langestreckten Hochtal, durchschnitten von einem kräftigen rauschenden Bach, meterdicken Schneefeldern und riesigen Felstrümmern. Und ganz hinten, kaum erkennbar eine neue Kante. Als wir diese erreichten, erhob sich erst der schlottrige steile Anstieg zu unserem wirklichen Ziel. Der Abstieg führte uns dann über weite Almen und einen langen Grat. Die letzten paar hundert Höhenmeter musste ich rückwärtslaufen, da mir meine Knie ob der Anstrengungen versagten. HG aber drängte, denn er wollte das hervorragende und bereits bezahlte Abendessen in der Unterkunft nicht verpassen. Er war ein Schwabe, mit allen ihnen zugeschriebenen Tugenden, und darüber konnte man trefflich mit ihm scherzen.

Zuletzt sprachen wir im Februar miteinander. Es ging darum, wie wir die Theorieproduktion der deutschsprachigen Sektionen auf eine neue Ebene heben. Er war Feuer und Flamme. Wir verblieben mit einem klaren Ziel, und das und alles Weitere werden wir tun.

Der Tod ist grausam und unwiderruflich. Hans-Gerd Öfinger hat sein Leben unserer Klasse gewidmet, „die rote Fahne fliegen lassen“, so wie es stets sein Motto war. Er hat sie jetzt weitergereicht in viele und gute Hände. Danke, Hans-Gerd. Du bleibst immer ein Teil von uns.


Hans-Gerd Öfinger - Genosse, Vorbild und Freund

von Gernot 

Es zählt wohl zu den absurdesten Dingen im Leben, dass einem oft erst durch den Tod eines Menschen wirklich bewusst wird, was er uns wirklich bedeutet hat. Leider ist es dann zu spät, ihm noch einmal mitzuteilen, welchen Stellenwert er für einen hatte.

Die Nachricht vom plötzlichen Tod meines langjährigen Genossen Hans-Gerd Öfinger war ein Schock und die Trauer sitzt tief, denn der „HG“, wie wir ihn alle nannten, gehörte stets zu den „Guten“.

Das erste Mal lernte ich den HG und seine Lebensgefährtin Maria-Clara 1990 bei einem Treffen der deutschen Voran-Gruppe in Köln kennen. Ich war damals erst seit wenigen Wochen beim „Vorwärts“ aktiv, wie die damalige marxistische Strömung in der SJ, hieß, und war begeistert von dieser neuen Welt des Marxismus, in der ich mich nun als junger Sozialist bewegte. Kurz stellte man mir, dem Neuen, einen großgewachsenen, blonden, etwas älteren Genossen vor, der im hinteren Teil des Saals saß. Das war der „HG“, der mich mit einem überaus kräftigen Händedruck und einem lauten „Hallo, Genosse“ begrüßte. Erst später wurde mir bewusst, dass dieser „HG“ einen maßgeblichen Anteil am Aufbau nicht nur der deutschen, sondern auch der österreichischen Sektion des CWI (Committee for a Workers International) hatte. Später erzählte er öfters aus dieser Zeit, von der Teilnahme am IUSY-Festival in Wien Anfang der 1980er Jahre, wo der Grundstein für den Aufbau unserer Strömung in Österreich gelegt wurde. Mit einem süffisanten Grinsen merkte er auch an, dass damals ein gewisser Alfred Gusenbauer sich in die Kontaktliste unserer GenossInnen eingetragen hatte. Und gerne fragte er nach, ob es den Andreas Pittler noch gibt.

Während ich in den kommenden Monaten in Wien in einem Hyperaktivismus aus politischen Sitzungen, Zeitungsverkaufsterminen, Demos usw. aufging, war der „HG“ bald schon in die heftigen Fraktionskämpfe im CWI involviert und bekam die bürokratischen Methoden seiner einstigen Mitstreiter schmerzhaft zu spüren. Er positionierte sich in diesem Konflikt entschlossen auf der Seite der „Minderheit“ rund um Ted Grant und Alan Woods. Ich bekam diese Debatten nur am Rande mit, in der österreichischen Sektion war das politische Niveau auch viel zu gering, um den Kern dieser Diskussionen wirklich verstehen zu können. Als es zur Spaltung kam, kehrte ich der Organisation fürs erste frustriert den Rücken. Erst ein Jahr später wollte ich wieder aktiv werden. Der erste Schritt dazu war, dass ich verstehen wollte, was zur Spaltung der Internationale geführt hatte. Von den GenossInnen in Italien, zu denen ich noch Kontakt hatte, erhielt ich die Adresse eines Genossen aus Wiesbaden: Hans-Gerd Öfinger.

Die Antwort auf meinen Brief war ein echter Augenöffner. Während die GenossInnen vom „Vorwärts“ längst zur Tagesordnung übergegangen waren und außer viel Aktivismus kaum Ideen anzubieten hatten, war da endlich jemand, der eine nachvollziehbare Erklärung liefern konnte. Ich verschlang die Internen Bulletins, in denen „HG“ das Scheitern des CWI analysierte. Diese Texte und später die Gespräche mit „HG“ prägen bis heute mein ganzes Verständnis davon, wie eine revolutionäre Organisation funktionieren sollte. Er gab mir ein tiefreichendes Verständnis dafür, wie wichtig marxistische Theorie für eine gesunde, demokratische Entwicklung einer Organisation ist. Von „HG“ habe ich auf diesem Weg eine Grundimmunisierung gegen jede bürokratische Tendenz mitbekommen.

Was „HG“ in diesen Jahren Anfang der 1990er geleistet hat, kann man nicht hoch genug einschätzen, auch wenn sein Wirkungskreis ein sehr kleiner war. In Österreich begannen wir bei Null mit dem Aufbau einer marxistischen Strömung in der Arbeiterbewegung, in Deutschland war die Gruppe von der Spaltung schwer angeschlagen. Mir ist bis heute nicht klar, welche Stärke „HG“ damals aufbrachte, trotz alledem weiterzumachen und sich nicht einfach ins Private zurückzuziehen oder es sich irgendwo in der Gewerkschaft oder in einer Redaktionsstube gemütlich zu machen.

Er aber machte sich mit einigen wenigen MitstreiterInnen an den Aufbau einer neuen marxistischen Zeitung („Der Funke“), die wir anfangs gemeinsam für Deutschland und Österreich herausgaben und rund um die wir eine neue marxistische Organisation aufbauten. Abwechselnd trafen wir uns entweder in Wiesbaden oder in Wien zu Redaktionssitzungen. Mein erster Besuch bei „HG“ in Wiesbaden war rückblickend wohl eine der wichtigsten Weichenstellungen meines Lebens. In der Sedanstraße im Westend wohnten „HG“ und Maria-Clara. Im Erdgeschoß des Wohnhauses hatten sie eine Art Büro gemietet. Als ich diesen Raum betrat, spürte ich das erste Mal so wirklich die Geschichte der Bewegung, der ich nun mein Leben verschreiben wollte. Neben unzähligen Büchern über marxistische Theorie und die Geschichte der Arbeiterbewegung befanden sich dort unzählige Ordner mit Zeitungen, Broschüren und Internen Bulletins unserer „Tendenz“. Ich schließ in dieser Nacht sehr wenig, weil ich bis spät diese Schätze durchblätterte.

Am nächsten Tag ging es nach einem gesunden Frühstück an die Redaktionsarbeit. Zu guter Letzt war noch ein kleines Eck im Innenteil frei. „HG“ fragte mich, ob ich nicht etwas Kurzes schreiben möchte. Ich machte mich an die Arbeit und legte ihm etwas später meinen Entwurf vor. Seine Reaktion auf den Text war so ermunternd und bestärkend, dass ich von da weg Lust am Schreiben hatte und auch das nötige Selbstbewusstsein entwickelte, um später selbst Redaktionsarbeit zu leisten.

„HG“ selbst war ein hervorragender Journalist. Seine Artikel waren nie leeres Wiedergeben von Formeln und Floskeln, sondern stützten sich immer auf „facts and figures“, tiefgehende Analysen und ein schier unerschöpfliches Verständnis der Geschichte und der gegenwärtigen Funktionsweise der Arbeiterbewegung. Was ich an ihm besonders schätzte, war seine Fähigkeit die Methode des revolutionären Übergangsprogramms auf konkrete Situationen anzuwenden, so dass es jede/r denkende ArbeiterIn verstehen konnte. Er kannte die Arbeiterbewegung wie kaum ein anderer, war bei unzähligen Arbeitskämpfen dabei, berichtete darüber und versuchte dies mit einer marxistischen Perspektive zu verbinden. Seine Referate und Wortmeldungen trug er mit großer Präzision vor, Mikro hätte er bei seiner lauten Stimme nie gebraucht.

„HG“ beherrschte mehrere Sprachen fließend, war ein hervorragender Übersetzer und lebte seinen Internationalismus. Er war stets interessiert an den Entwicklungen in anderen Ländern und nutzte jede noch so kleine Möglichkeit, um konkrete internationale Solidaritätsarbeit zu organisieren und daraus einen Hebel zum Aufbau der marxistischen Organisation zu machen.

In all diesen Fragen war „HG“ für mich und die erste Generation des „Funke“ in Österreich ein wichtiger Lehrer. Mit der Zeit hatten wir die Reife erlangt, unseren eigenen Weg zu gehen, aber die Zusammenarbeit mit den GenossInnen in Deutschland blieb stets eine enge. Beim Durchblick unserer Facebook-Nachrichten war ich überrascht, wie oft ich mit „HG“ auch in den letzten Jahren im Austausch stand und wir uns gegenseitig um politische Einschätzungen oder Informationen baten.

Ihn zu treffen, war immer eine Freude. Meist war dies bei den Kongressen und Schulungen der International Marxist Tendency (IMT), wo wir uns austauschten, diskutierten und Pläne für gemeinsame Projekte schmiedeten. Unvergesslich wird mir eine Teilnahme an einem Weltkongress in Barcelona Ende der 1990er bleiben. Ich war dort schwer an einer Herpesinfektion erkrankt, hatte hohes Fieber und am ganzen Körper Fieberblasen. Vom politischen Programm bekam ich kaum etwas mit und war auch am Tag der Abreise noch nicht ganz am Damm. An eine Heimreise war nicht zu denken. „HG“ machte mir das Angebot, mit ihm und 3 anderen GenossInnen in die Pyrenäen mitzufahren, und wenn es mir besser gehen sollte, könnte ich ja in den folgenden Tagen bei den geplanten Wanderungen mitgehen. Nach einer Nacht im Zelt war das Fieber endlich weg und ich ging mit in die Berge. Wir wanderten den ganzen Tag durch eine Schlucht und auf einen Gipfel, der von Massen von Heuschrecken bevölkert wurde. „HG“ war immer fit wie ein Turnschuh und konnte es mit uns Jungen locker aufnehmen. Am Abend entdeckten wir zufällig ein Volksfest, wo wir den Tag mit Wein und Tanz ausklingen ließen. „HG“ entsprach von seinem Outfit dem Klischeebild eines deutschen Touristen, was zu Scherzen einlud, die er aber stets souverän konterte.

In meiner Erinnerung wird er immer jemand bleiben, der schon in dieser Gesellschaft dem Ideal eines „neuen Menschen“ sehr nahe kam. Auf alle Fälle hatte er die wichtigsten Eigenschaften, die jeden Revolutionär ausmachen sollten: Geduld und Humor.

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